Dialog der Kulturen

dalailama txtSeit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen. Ich spreche von einer säkularen Ethik, die auch für über eine Milliarde Atheisten und für zunehmend mehr Agnostiker hilfreich und brauchbar ist.

Wesentlicher als Religion ist unsere elementare menschliche Spiritualität. Das ist eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung – unabhängig davon, welcher Religion wir angehören.

Nach meiner Überzeugung können Menschen zwar ohne Religion auskommen, aber nicht ohne innere Werte, nicht ohne Ethik. Der Unterschied zwischen Ethik und Religion ähnelt dem Unterschied zwischen Wasser und Tee. Ethik und innere Werte, die sich auf einen religiösen Kontext stützen, sind eher wie Tee. Der Tee, den wir trinken, besteht zum größten Teil aus Wasser, aber er enthält noch weitere Zutaten – Teeblätter, Gewürze, vielleicht ein wenig Zucker und – in Tibet jedenfalls – auch eine Prise Salz, und das macht ihn gehaltvoller, nachhaltiger und zu etwas, das wir jeden Tag haben möchten. Aber unabhängig davon, wie der Tee zubereitet wird: Sein Hauptbestandteil ist immer Wasser. Wir können ohne Tee leben, aber nicht ohne Wasser. Und genau so werden wir zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl – und auch nicht ohne Wasser.

Ich sehe immer deutlicher, dass unser spirituelles Wohl nicht von der Religion abhängig ist, sondern der uns angeborenen menschlichen Natur, unserer natürlichen Veranlagung zu Güte, Mitgefühl und Fürsorge für andere entspringt. Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine elementare und menschliche ethische Urquelle in uns. Dieses gemeinsame ethische Fundament müssen wir hegen und pflegen. Ethik, nicht Religion, ist in der menschlichen Natur verankert. Und so können wir auch daran arbeiten, die Schöpfung zu bewahren.

Das ist praktizierte Religion und praktizierte Ethik. Das Mitfühlen ist die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Es ist meine Überzeugung, dass die menschliche Entwicklung auf Kooperation und nicht auf Wettbewerb beruht. Das ist wissenschaftlich belegt.
Wir müssen jetzt lernen, dass die Menschheit eine einzige Familie ist und dass dazu auch Atheisten und die zunehmende Zahl der Agnostiker gehören. Wir alle sind physisch, mental und emotional Brüder und Schwestern. Aber wir legen den Fokus noch viel zu sehr auf unsere Differenzen anstatt auf das, was uns verbindet. Dabei sind wir doch alle auf dieselbe Weise geboren und sterben auf dieselbe Weise. Es macht wenig Sinn, mit Stolz auf Nation und Religion auf dem Friedhof zu landen!
Ethik geht tiefer und ist natürlicher als Religion. Auch der Klimawandel ist nur global zu lösen. Ich hoffe und bete, dass diese Erkenntnis auf dem nächsten Klimagipfel in Paris Ende 2015 endlich zu konkreten Ergebnissen führt. Egoismus, Nationalismus und Gewalt sind der grundsätzlich falsche Weg. Die wichtigste Frage für eine bessere Welt heißt: Wie können wir einander dienen? Dafür müssen wir unser Bewusstsein schärfen.

Das gilt auch für Politiker. Wir benötigten positive Geisteszustände. Ich übe das täglich vier Stunden. Meditation ist wichtiger als ritualisierte Gebete. Kinder sollten Moral und Ethik lernen. Das ist hilfreicher als alle Religion.
Die Hauptursachen für Kriege und Gewalt sind unsere negativen Emotionen. Diesen geben wir zu viel Raum und unserem Verstand und unserem Mitgefühl zu wenig.

Ich schlage vor: Mehr zuhören, mehr nachdenken, mehr meditieren. Mit Mahatma Gandhi meine ich: „Wir müssen selbst die Veränderung sein, die wir in der Welt zu sehen wünschen.“

In einigen totalitären Ländern sehen wir, dass Frieden nur von Dauer sein kann, wenn die Menschenrechte respektiert werden, wenn die Menschen zu essen haben und wenn der Einzelne und die Völker frei sind. Wahren Frieden mit uns, zwischen uns und um uns herum können wir nur durch inneren Frieden erlangen. Zum Glück gehört die Entwicklung einer universalen Verantwortung und einer säkularen Ethik.

Ich werde immer an der Gewaltfreiheit festhalten. Das ist intelligente Feindesliebe. Durch intensives Meditieren werden wir feststellen, dass Feinde unsere besten Freunde werden können. Aus der Perspektive einer rein säkularen Ethik werden wir so zu gelasseneren, mitfühlenderen und urteilsfähigeren Menschen. Dann haben wir auch die Chance, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens, ein Jahrhundert des Dialogs und ein Jahrhundert einer fürsorglicheren, verantwortungsvolleren und mitfühlenderen Menschheit wird.

Das ist meine Hoffnung. Und das ist mein Gebet. Ich blicke mit Freude dem Tag entgegen, an dem Kinder in der Schule die Grundsätze der Gewaltlosigkeit und der friedlichen Konfliktlösung, also der säkularen Ethik, lernen.
Den materiellen Werten wird heute zu viel Bedeutung beigemessen. Sie sind wichtig, aber sie können unseren psychischen Stress, unsere Furcht, Wut oder Frustration nicht verringern. Wir müssen jedoch unsere mentalen Belastungen, wie zum Beispiel Stress, Ängste, Frustrationen, überwinden. Deshalb brauchen wir eine tiefere Ebene des Denkens. Das verstehe ich unter Achtsamkeit.
Durch Meditation und Nachdenken können wir zum Beispiel lernen, dass Geduld das wichtigste Gegenmittel gegen die Wut ist, Zufriedenheit gegen Gier wirkt, Mut gegen Angst, Verständnis gegen Zweifel. Zorn über andere hilft wenig, stattdessen sollten wir dafür sorgen, dass wir uns selbst ändern.

Jetzt scheint der Mensch etwas an Reife zu gewinnen. Das Bedürfnis nach Frieden bzw. die Ablehnung von Gewalt ist sehr stark. Wir müssen weltweit Anstrengungen unternehmen, alle gewalttätigen Methoden zu stoppen, einzudämmen oder abzuschaffen. Jetzt reicht es nicht mehr aus, den Menschen zu sagen, dass wir Gewalt ablehnen und Frieden wollen.
Wir müssen wirksamere Methoden anwenden. Waffenexporte sind ein großes Hindernis für mehr Frieden. Wann immer wir auf Probleme stoßen oder wirtschaftliche Konflikte entstehen, aber auch in Fällen von religiösen Differenzen, müssen wir darauf hinwirken, dass die einzig wahre Methode der Dialog ist.
Wir müssen lernen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind. Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Gewalt. Unser 21. Jahrhundert sollte das Jahrhundert des Dialogs sein! Die Vergangenheit können wir niemals ändern, aber wir können immer lernen für eine bessere Zukunft.

Die Vorstellung, Probleme seien mit Gewalt und Waffen zu lösen, ist ein verheerender Irrglaube. Außer in seltenen Ausnahmefällen führt Gewalt immer zu neuer Gewalt. Krieg ist in unserer vernetzten Welt nicht mehr zeitgemäß und widerspricht der Vernunft und der Ethik. Der Irak-Krieg, den George W. Bush 2003 begann, war ein Desaster. Dieser Konflikt ist bis heute nicht gelöst und hat viele Menschen das Leben gekostet.

Es reicht freilich nicht, nur an den Friedenswillen der Politiker zu appellieren. Wichtiger ist, dass sich immer mehr Menschen auf der ganzen Welt zur Abrüstung bekennen. Abrüstung ist praktiziertes Mitgefühl. Voraussetzung einer äußeren Abrüstung ist allerdings eine innere Abrüstung von Hass, Vorurteilen und Intoleranz. Ich appelliere an alle aktuellen Kriegsparteien: „Rüstet ab und nicht auf!“, und an alle Menschen: „Überwindet Hass und Vorurteile durch Verständnis, Kooperation und Toleranz!“
Trotz allen Leids, das China uns Tibetern seit Jahrzehnten zufügt: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die meisten menschlichen Konflikte durch aufrichtigen Dialog gelöst werden können. Diese Strategie der Gewaltfreiheit und der Ehrfurcht vor allem Leben ist das Geschenk Tibets an die Welt.

Dalai Lama, Dharamsala, im März 2015

 

UriAvnery

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